Machbarschaft ist machbar: Auch bei uns im Rhein-Lahn-Kreis!

Von der Solidarischen Landwirtschaft über das Schnorbacher Modell bis zur konkreten Utopie eines Biospärenreservats: zahlreiche Engagierte und Aktivist*innen machen Ernst. Ein Bericht von Thomas Kohl

13.05.22 –

M A C H B A R S C H A F T ein Bericht von Thomas Kohl

Meine erste überraschende Erfahrung des Abends war, dass neben den referierenden Fachleuten ebenso viel weiterer Sachverstand bei den übrigen Anwesenden vertreten war.  Dank dieser Expertise konnten die Tischgespräche direkt auf einem hohen Niveau beginnen und führten schließlich zu sehr konkreten Verabredungen für neue Kooperationen in der Region. Doch zuerst  zum Abend selbst.

Nach Begrüßung durch Friedhelm Rückert, dem Bürgermeister der gastgebenden Gemeinde Geilnau, habe ich kurz die Prämissen für den Abend skizziert: „Es wird anstrengend und anregend zugleich: Zehn Impulsgeberinnen und Ideenstifter stellen in kurzer Abfolge ihre Vorschläge und Praxisbeispiele vor und gehen dann jeweils an einem Thementisch für eine Viertelstunde mit dem Publikum ins Gespräch. Das Publikum, als interessierte Menschen angesprochen, wechselt alle 15 Minuten den Tisch und das Thema.“

Den Anfang machte Stefan Eschenauer, als Mitgastgeber und Geschäftsführer des Naturparks Nassau – er schuf mit seiner Expertise die Grundlage des Abends, und stellte die konkreten Naturschutzmaßnahmen zu Pflege, Erhalt und Förderung des immensen regionalen Naturschatzes vor, die von vielen Ehrenamtlichen projektiert und vom Naturpark gefördert wurden – ein Füllhorn an Handlungsmöglichkeiten!

Das Feld erweiterte dann der Klimaschutzmanager der VG Diez, Richard Koch, mit einem schnellen und anschaulichen Überblick zur aktuellen Energiewende, deren Dringlichkeit genauso sichtbar wurde, wie die Vielfalt kommunaler und privater Investitionsspielräume, staatlicher Fördermaßnahmen und vor allem deren konkrete Umsetzung – eine Handreichung gewissermaßen.

Sechs Praxisbeispiele zeigten dann nach und nach die Vielfalt und Originalität lokaler Klimaschutzmaßnamen.

In einer anschaulichen Einheit von angewandter Wissenschaft, nachhaltigen Feldversuchen und wirtschaftlicher Eigenverantwortlichkeit stellte Dr. Konrad Egenolf aus Balduinstein sein Projekt einer großen, ökologisch bewirtschafteten Walnussplantage als Agrareinheit mit einer Wildblumensaatgutvermehrung vor – ein tragfähiger Modellversuch zur kompetenten Nachahmung.

Um eine ganz andere lokale Thematik ging es Dr. Thorsten Janning, der mit seinem Dorfflitzer aus Netzbach die Idee eines elektromobilen Carsharings im ländlichen Raum vor vier Jahren realisierte und so die nutzbare Teilbarkeit von öffentlichem Besitz und Mobilität stärkte – viele dörfliche Nutzer:innen zeigen einen sozial wie ökologisch reichen Weg auf.

Um eine weitere Form des regionalen Gemeinschaftsnutzens ging es der staatlichen Baumpflegerin Anna Müller aus Schönborn, die als Gärtnerin eine solidarische Landwirtschaft mit aufgebaut hat: 70 Menschen betreuen praktisch wie wirtschaftlich einen Gemeinschaftsgarten, der ihre Familien und Haushalte an 9 Monaten im Jahr mit Obst und Gemüse aus regionalem biologischem Anbau versorgt – Arbeit, Boden und Ernte werden geteilt! Und eine kleine Zahl an Mitgliedern könnte noch aufgenommen werden… Zugleich sprach Anna Müller über ihre Expertise als staatlich geschulte Baumpflegerin, die in Südwestdeutschland und natürlich auch in unserer Region z.B. Streuobstwiesen wieder in Form bringt, diese regionalen Schätze saniert und erneuert – sie konnte sich, wie zu erwarten, vor kommunaler wie privater Nachfrage kaum retten. So sind direkt einige großflächige und weit reichende Projekte entstanden.

Die Gestaltung von Gemeinwohl im Dorfleben stellte Marie-Theres Schmidt, die Bürgermeisterin von Balduinstein mit dem Lahnpavillon vor: Einem öffentlichen Ort, der ausschließlich nach nachhaltigen Kriterien und historischen Vorbildern geplant und von regionalen Handwerkern mit neuester umweltfreundlicher Technik und natürlichen Materialien erstellt wurde – ein vielfach schöner Ort, der sich mit dem ersten Platz aus der regionalen LEADER-Förderung der EU zu 75 % finanzieren ließ und ein ansteckendes Beispiel für die Tatkraft ist, die sich aus Anschubfinanzierung, Phantasie und politischem Mut entwickeln lässt.

Einen ganz konkreten Ort einer sozial-ökologischen Utopie stellte Willi Auf der Lake vor, der in fünfzehn Jahren an der Waldorfschule Diez und im dortigen Kindergarten in vielen, reflektierten Einzelschritten eine innovative, biologische und tagesfrische Gemeinschaftsküche für 400 Menschen geschaffen hat – ausschließlich mit den normalen staatlichen Fördergeldern und gesetzlich festgelegten Elterngeldern – Bioessen in drei Gängen für zwei Euro am Tag! Das Beispiel und die immense Praxis von Will Auf der Lake wird wohl nun Schule machen – die Nachfrage von kommunalen wie kirchlichen Trägern war bei den Tischgesprächen schon groß!

Die machbare Kombination solcher konkreter Projekte demonstrierte Bernd Kunz in seinem Impulsvortrag. Als Bürgermeister und Energiefachmann stellte er uns das Schnorbacher Modell vor. In unserem Nachbarkreis Rhein-Hunsrück hat sich aus dem Klimanotstand ein Klimawohlstand entwickelt: Durch den weiträumigen, frühzeitigen und vorausschauenden Aufbau von über hundert Windanlagen im Kommunalverbund und unter Einbeziehung der Bürgerschaft ist eine nachhaltige Energieexport- und Zuzugsregion entstanden, die die Einnahmen aus den gemeinschaftlichen Windparks in sozial-ökologische Projekte zurückfließen lässt. Vom Fuhrpark der kommunalen Dorfautos, die – ähnlich dem Dorfflitzer – zwölf dörflichen Gemeinschaften als E-Mobilitäts-Sharing zur Verfügung stehen über Stromsparanreize und Energiesparhilfen für hilfsbedürftige Haushalte bis hin zu einem kommunal angestoßenen Solarpanelprogramm auf privaten Dächern – ein Füllhorn von vernetzten und verwirklichen Projekten!

Diese vielfältigen Perspektiven mündeten in die Frage, wie all dieses vorhandene Wissen und die gemeinsame Tatkraft dezentral und beispielgebend verfügbar gemacht werden könnten. Hierzu stellte die Klimaschutzbeauftragte des Rhein-Lahn-Kreises, Jasmin Lemler, das Konzept der Klimapatenschaft vor Ort vor – ein Anliegen, das mich schon länger beschäftigt. Analog zur Gemeindeschwester entsteht ein neues Ehrenamt, mit dem – nach einer fachlichen Schulung – in jedem Dorf eine Ansprechperson für alle (!) lokalen Klimafragen zur Verfügung steht, so niederschwellig und umfassend wie möglich. Mit dieser Person fließt das Wissen zusammen und wird in Gespräch und Handreichung individuell verfügbar gemacht – als Klimapatin, als Klimapate.

Zu guter Letzt eine konkrete Utopie: Fasst man die erzählten Erfahrungen und offen gelegten Beispiele zusammen, so gibt es ein weltweit praktiziertes, passendes Modell, das den gezielten Interessenausgleich zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, sanftem Tourismus und regionaler Wertschöpfung, Bildung und Forschung unter der Obhut der UNESCO zusammenfasst: das Biosphärenreservat! Dessen Planung und Errichtung im Rhein-Lahn-Kreis und damit im Naturpark Nassau stand im Zentrum der Untersuchung und des Vortrags der Bonner Studentin Henriette Kaltheier. Ihr Fazit: Würde man die vorhandenen Kräfte und Potentiale bündeln können, so stünde unserer Region tatsächlich eine große Zukunft als Biosphärenreservat bevor!

Danach ging es in die lebendigen und oft begeisternden Gespräche, Nachfragen und Planungen….